Schluss mit Staunen und Hinterherlaufen

Drei Thesen, wie wir jetzt die wirtschaftliche Grundlage für erfolgreiche 2030er legen


26. Oktober 2020|By Nils Langhans

»Die Kernherausforderung für die digitale Souveränität Europas ist, seine Abhängigkeit von Dritten im Bereich digitaler Technologien und Geschäftsmodelle zu vermindern.« Dieser spröde Satz aus einer kürzlich erschienenen Studie der Bertelsmann Stiftung bringt auf den Punkt, wie prekär die Aussichten für Deutschland und Europa zu Beginn der Dekade sind. Vor uns liegen, das steht zu befürchten, keine goldenen Zwanziger. Im Gegenteil: Über die nächsten Jahre werden wir einen relativen Abstieg der globalen Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland und Europa erleben. Nur noch ein einziges der hundert wertvollsten Unternehmen der Welt kommt aus Deutschland – das Softwareunternehmen SAP. In praktisch allen Bereichen digitaler Wertschöpfung hecheln wir seit Jahren gnadenlos hinterher. Für viele Schlüsselindustrien gilt: Wir haben viel zu lange im veralteten Branchenkleinklein an den Bedürfnissen von Morgen vorbei getüftelt: Technisch hochinnovativ, doch selbstreferenziell und ohne signifikante Nutzensteigerung. Das Ergebnis: Tesla ist heute doppelt so viel wert wie VW, Daimler und BMW zusammen, der chinesische Autohersteller BYD schon heute fast so viel wie BMW. Die Automobilindustrie ist dabei nur das plakativste unter unzähligen Beispielen. Globale Plattformen Made in Europe? Fehlanzeige. Die deutsche Wirtschaft zu Beginn der 20er Jahre ist ein Paradebeispiel für das, was der kürzlich verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen als Innovator’s Dilemma beschrieben hat. Was also tun? Wir müssen endlich aus dem Staunen und Hinterherlaufen herauskommen und die Assets, die wir haben – Spitzenforschung, einen starken Mittelstand und ein noch immer hohes Wohlstandsniveau –, sinnvoll zusammenbinden. Wir müssen in Deutschland und Europa wieder grundlegende Innovationen entwickeln und global kommerzialisieren, um Übermorgen neue Weltmarktführer zu etablieren und gänzlich neue Märkte aufzuspannen. Wir brauchen das Ambitionsniveau, im Übermorgen wieder wirtschaftliche Weltspitze zu sein – und wir müssen uns überlegen, wie wir jetzt die strategischen Weichen für erfolgreiche 2030er stellen können.

These 1: Mit Sprunginnovationen überspringen, wo aufholen nicht mehr möglich ist

Die letzte Sprunginnovation, die in Deutschland entstanden ist und erfolgreich kommerzialisiert wurde, war das Auto. Das ist deutlich mehr als ein Jahrhundert her. Für den Wohlstand von Übermorgen brauchen wir wieder Sprunginnovationen Made – and Commercialized – in Germany and Europe. Die in Leipzig angesiedelte Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) nach dem Vorbild der amerikanischen DARPA ist hier ein wichtiger und richtiger Baustein. Unter der Leitung von Rafael Laguna de la Vera, Gründer der Open Xchange AG und einer der profiliertesten Digitalunternehmer Deutschlands, treibt die SPRIND solcherlei Innovationen, die einerseits hochriskant sind und andererseits potentiell gewaltigen Nutzen für die Gesellschaft haben. Die ersten Projekte unter dem Dach der SPRIND geben ein Gefühl für die Bandbreite und Radikalität, mit der dort gedacht und gehandelt wird: Vom analogen Computer, über Höhenwindkraftanlagen bis zu einem Sovereign European Cloud Stack werden dort grundlegende Nutzeninnovationen mit Kapital und Köpfen gefördert, für die sich wegen des hohen initialen Risikos keine privaten Investoren finden. Nicht alles wird ein Erfolg werden, manches krachend scheitern, doch genau darin liegt vielleicht die übergeordnete Bedeutung der SPRIND: Das Land der Ingenieure und der Perfektion muss sich von der inkrementellen Innovation wieder zur Exploration unkartierter Technologien und zur Lösung der großen ungelösten Probleme von Morgen aufschwingen. Damit das gelingt, brauchen wir dringend Räume wie die SPRIND oder den von Merantix initiierten KI-Campus in Berlin, in denen Spitzenforschung, Tüftelei, Geschäftssinn und Kapital konstruktiv zusammenfinden.

These 2: Der Mittelstand von Morgen innoviert im horizontalen Verbund

Die Wertschöpfung von Übermorgen funktioniert nicht ohne die Transformation unserer gegenwärtigen Wertschöpfung. Bei aller Fokussierung auf die erste Reihe der DAX-Konzerne dürfen wir nicht vergessen: Mehr als jeder zweite Euro wird in Deutschland im Mittelstand verdient. Für die mittel- und langfristige Wettbewerbsfähigkeit ist es entsprechend eminent wichtig, aus den Hidden Champions des Mittelstands Digital Champions zu machen. Eine zentrale Herausforderung liegt dabei in der horizontalen Vernetzung: Allein sind die allermeisten KMUs schlicht zu klein, um im immer schnelleren globalen Wettstreit um Innovationen mitzuhalten. Es braucht daher eine Abkehr vom alten branchenzentrierten Wettbewerbsdenken und eine neue Hinwendung zu horizontaler Integration und Kooperation. Der Maschinenraum, initiiert von Viessmann, ist hier etwa ein gutes Beispiel, wie diese Vernetzung funktionieren kann. Als offenes Innovationsökosystem hebelt es die Innovationsfähigkeit seiner Mitglieder. Auch die IIoT-Plattform Adamos, die digitale Lösungen für den Maschinen- und Anlagenbau bündelt, zeigt in eine ähnliche Richtung: Der Mittelstand von Morgen funktioniert nur im Verbund.

These 3: Die Giganten von Morgen entstehen nur mit ausreichend Kapital

Im Schatten der Transformation etablierter Player ist in Deutschland und Europa eine neue Riege vielversprechender Grown-ups entstanden, die sich im globalen Wettbewerb nicht zu verstecken braucht. Das Münchner Process-Mining-Unicorn Celonis etwa hat das technologische Potential, eine ähnliche Erfolgsgeschichte wie einst SAP hinzulegen; Lilium ist eines der vielversprechendsten Unternehmen im Bereich von klimaneutralen Flugtaxis; mit der Solarisbank ist in Berlin ein Tech-Unternehmen heimisch, das die Transformation der Finanzindustrie höchsterfolgreich vorantreibt; das Start-up Infarm wiederum ist eine der heißesten Wetten im Wachstumsfeld Urban and Sustainable Farming und mit mehreren Hundert Millionen Euro bewertet; diese Aufzählung lässt sich noch weit fortführen. Klar ist: Es mangelt schon heute nicht an vielversprechenden Start-ups und Grown-ups in Deutschland und Europa. Doch damit die Kommerzialisierung ihrer Ideen und Technologien auf dem Kontinent bleibt und langfristigen Wohlstand bringt, braucht es endlich einen funktionierenden und global wettbewerbsfähigen Finanzierungskreislauf. Insbesondere im Bereich von Later-Stage- und Wachstumsfinanzierung sind Deutschland und Europa jedoch mangelhaft aufgestellt. Neun von zehn Later-Stage-Finanzierungen kommen in Deutschland nur unter Mithilfe ausländischer Investoren zustande, wie die KfW kürzlich in einer Studie bemängelte. Bis dato fehlen schlicht Instrumente wie ein schlagkräftiger Spätphasenfonds, in den Versicherer und Banken einen kleinen Teil ihres gegenwärtig zum Nullzins geparkten Anlagevermögens investieren, oder eine europäische Technologiebörse, um die notwendigen Finanzierungsbedingungen für neue Global Player Made in Europe zu schaffen.

Wir müssen aus dem Staunen rauskommen

Die Zäsur in der Wertschöpfung an der Schwelle zur postindustriellen Epoche, die sich durch den Trigger Corona, aber auch durch die Klimakrise sowie durch sich verschiebende geopolitische Gewichte beschleunigen und vertiefen wird, muss uns als Gesellschaft, aber auch jede*n Unternehmer*in zu sehr grundlegenden Fragestellungen führen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Und wovon? Wir müssen im Angesicht der multiplen Herausforderungen, die vor uns liegen, aus dem Staunen über die Innovationen der anderen herauskommen und selbst wieder die Ambition haben, Dinge zu entwickeln, die zum Staunen einladen. Wir müssen unseren Mittelstand so vernetzen, dass er leistungs- und innovationsfähig bleibt. Wir müssen die Champions von morgen mit bestmöglichen Finanzierungsbedingungen auch langfristig vor Ort halten. Und wir müssen jetzt in radikale Innovationen investieren, damit wir in einigen Jahren auf der Basis von Sprunginnovationen wieder technologisch und kommerziell erfolgreiche Unternehmen von Weltrang produzieren. Damit das gelingt, müssen wir in Deutschland und Europa den unbedingten Willen zu digitaler Souveränität entwickeln. Denn nur wenn wir als Wirtschaftsraum global wettbewerbsfähig und hinreichend unabhängig bleiben, bleiben langfristig auch unsere Werte global wettbewerbsfähig.


Nils Langhans ist Gründer und Geschäftsführer von KAUFMANN / LANGHANS. Er arbeitete zuletzt als selbstständiger Kommunikationsberater für Startups aus den Bereichen AI, Blockchain und FinTech. Zuvor war er unter anderem für die strategischen Kommunikationsberatungen Hering Schuppener und CNC sowie für den ehemaligen Obama-Berater Julius van de Laar tätig. Nils ist Alumnus der Studienstiftung, Mitglied bei Mensa e.V. und wurde 2018 vom PR Report in das 30-unter-30-Ranking gewählt.