Bloß wie eigentlich? Und wohin? Und warum?

Wir müssen uns neu erfinden – und zwar zackig


22. Juli 2020|By Nils Langhans

Was ist von Made in Germany zu Beginn der neuen Zwanziger zu erwarten? Während die Wirtschaftslenker*innen das Rückspiel der Digitalisierung und die Aufholjagd des jeweils eigenen Unternehmens beschwören, schmilzt der Wert der deutschen Kernindustrie unter dem Brennglas Corona wie eine Kugel Eis in der Sonne. Dass Tesla heute mehr Wert ist als BMW, Mercedes und VW zusammen, dass Apple mehr Wert ist als der gesamte DAX, dass unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt genau eines aus Deutschland ist, dass es noch viel mehr solcher Zahlen gäbe, all das sagt einiges über den bedenklichen Zustand des Wirtschaftsstandorts Deutschland, über den Verlust der Strahlkraft von Made in Germany. Doch wie konnte es soweit kommen? Und noch wichtiger: Was kann man dagegen tun? Der Leidensdruck jedenfalls, der der Old Economy in der vergangenen Rekord-Dekade gefehlt hat, ist nun da – mit Wumms, um das Sprachbild von Bundesfinanzminister Scholz zu bemühen. Und die plötzliche Not, die über einstige bzw. Noch-Weltmarktführer hereinbricht, macht zumindest nach außen kühn, mutig und entschlossen. »Wir müssen uns neu erfinden – und zwar zackig«. Diese Erkenntnis hat sich durchgesetzt, auch in den hintersten Ecken der Republik. Bloß – wie eigentlich? Und wohin? Und warum?

Cover-my-Ass-Attitüde statt Umsetzungspower

Genau hier beginnt das Problem: Die plötzliche Klar- und Weitsicht prallt auf eingerostete Organisationen, die durchzogen sind von Sattheit und Besitzständen, von Cover-my-Ass-Attitüde und uninspiriertem Durchwurschteln. Eine merkwürdige Fatigue legt sich wie Mehltau über Teile der deutschen Wirtschaft und vermischt sich mit der Unfähigkeit, die eigene Vision und langfristige strategische Ziele zu operationalisieren, zu kommunizieren und umsetzbar zu machen. Sowohl Konzerne, als auch mittelständische Unternehmen haben erhebliche Schwierigkeiten, ihre Rolle unter den veränderten Wertschöpfungsbedingungen des postindustriellen Zeitalters neu zu definieren und ihre strategischen Überlegungen in organisationale Realität zu übersetzen. Ein Grund dafür: Organisationsdesign und Organisationskultur stammen vielfach noch aus der Industrieepoche und passen schlicht nicht mehr zu den veränderten Anforderungen der postindustriellen Wertschöpfung. Im Ergebnis mangelt es vielerorts an Umsetzungspower und am nötigen Drive, die es dringend bräuchte, um hochleistungsfähige Organisationen zu formen, die im immer schnelleren globalen Innovationsrennen Schritt halten können.

Ein Cocktail aus Misstrauen und Selbstzweifel

Der zunehmende Bruch und die Entfremdung zwischen Führungsebene und Belegschaft scheint dabei die Achillesferse vieler Unternehmen auf dem Weg in Richtung Zukunft: Jede zweite Führungskraft bescheinigt dem eigenen Unternehmen großen Nachholbedarf beim Thema Digitalisierung, hat aber gleichzeitig selbst kein klares Bild von den notwendigen Veränderungen, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt. Jede*r zweite Arbeitnehmer*in zweifelt an der Zukunftsstrategie seiner bzw. ihrer Chefinnen und Chefs. Nur jedes dritte deutsche Unternehmen hält sich selbst für einen digitalen Vorreiter. Es grassiert Misstrauen und latenter Zweifel an der eigenen Zukunftsfähigkeit. Ein fataler Cocktail – und ein schlechtes Zeugnis für viele Führungskräfte: Wenn Führung noch nicht einmal den eigenen Laden mobilisieren und begeistern kann, wenn Führung nicht einmal Vertrauen unter den eigenen Leuten erzeugt, dann wird es schwer, Unternehmen zu formen, die wieder im globalen Vergleich bestehen können. Wer also mit Pomp das Rückspiel der Digitalisierung ausruft, der sollte vorab vielleicht zunächst schauen, ob überhaupt noch alle das gleiche Trikot tragen wollen. Das größte Problem vieler Unternehmen ist entsprechend weder ein Erkenntnisproblem, noch ein klassisch-strategisches Problem. Es drängt sich vielmehr die nüchterne Feststellung auf: »Wir haben ein Umsetzungsproblem«. Um den erlahmten Machergeist neu zu beleben und wieder in der notwendigen Geschwindigkeit umzusetzen und zu innovieren, sind für Unternehmen auf dem Weg in Richtung Zukunft daher vor allem folgende drei Stellhebel entscheidend.

Geschwindigkeit durch Integration von Strategieentwicklung und -implementierung

Strategiearbeit darf nicht länger ein Synonym für Selbstbeschäftigung in Altherren-Hinterzimmerrunden sein, sondern muss einen offenen Raum für die Ideen und die Vielfalt der gesamten Organisation bieten. Für die allermeisten Unternehmen geht es entsprechend vor allem darum, auf eine neue Art Strategie zu machen – im Wortsinne zu machen, denn nur wenn es gelingt, die Ideen und die Tatkraft der Vielen effizient in die parallel verlaufende Entwicklung und Umsetzung von Strategie einzubinden, haben Unternehmen eine Chance, wieder in der notwendigen Geschwindigkeit und Güte Dinge umzusetzen und zu innovieren. Eine wichtige Grundlage für solch eine neue Art Strategie zu machen: Eine Kultur der Eigenverantwortung und des Versuchens, die sichtbar Anreize schafft, um die habitualisierte Verwaltungspraxis zu verdrängen.

Klare Richtung durch Purpose, Mission und Vision

Warum tun wir, was wir tun? Und was wollen wir damit langfristig erreichen? Wer als Unternehmen überzeugende Antworten auf diese zentralen Fragen findet und seine Mitarbeiter*innen hinter einer geteilten Mission und Vision vereint, der schafft die inhaltlich-motivationale Voraussetzung einer High-Performance-Organisation. Denn erst durch die Balance aus Klarheit in der Sache und Handlungsfreiheit für jede*n Einzelne*n entsteht ein Umfeld, in dem die Stärken der Vielen zur Geltung kommen. Wer sich jedoch der Beantwortung dieser elementaren Fragen verweigert, der setzt die Zukunftsfähigkeit seiner Organisation aufs Spiel. Denn Purpose ist längst kein Schönwetterthema mehr, sondern ein Treiber von Wert und Wachstum – so weisen etwa Unternehmen mit klar kommuniziertem Purpose um 42 Prozent bessere Finanzergebnisse aus.

Glaubwürdigkeit und Mobilisierung durch Prozessgerechtigkeit

Der vielleicht wichtigste Baustein auf dem Weg zu einer erfolgreich umgesetzten Strategie: Ein gerechter Prozess. Der Begriff der Prozessgerechtigkeit ist auf die Sozialwissenschaftler John W. Thibault und Laurens Walker zurückzuführen, die in ihren Studien untersuchten, welche Faktoren Menschen dazu bewegen, auf ein Rechtssystem zu vertrauen. Das zentrale Ergebnis: Die Gerechtigkeit des Prozesses, durch den ein Ergebnis zustande kommt, ist ebenso wichtig wie das Ergebnis selbst. Übertragen auf die Strategieentwicklung und -umsetzung ist die Prozessgerechtigkeit durch drei sich gegenseitig verstärkende Elemente gekennzeichnet: Einbeziehung, Erklärung und klar formulierte Erwartungen. Je mehr jede*r Einzelne sich in den Strategieprozess einbezogen fühlt, je besser strategische Entscheidungen erklärt werden und je eindeutiger Erwartungen formuliert werden, desto besser funktioniert die Umsetzung einer Strategie. Der Mangel an Mobilisierung und Begeisterung ist gegenwärtig vielleicht der stärkste Hemmschuh für die Old Economy – ein mobilisierender und als gerecht empfundener Strategieprozess kann der Ausweg aus dieser Fatigue sein.

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Nils Langhans ist Gründer und Geschäftsführer von KAUFMANN / LANGHANS. Er arbeitete zuletzt als selbstständiger Kommunikationsberater für Startups aus den Bereichen AI, Blockchain und FinTech. Zuvor war er unter anderem für die strategischen Kommunikationsberatungen Hering Schuppener und CNC sowie für den ehemaligen Obama-Berater Julius van de Laar tätig. Nils ist Alumnus der Studienstiftung, Mitglied bei Mensa e.V. und wurde 2018 vom PR Report in das 30-unter-30-Ranking gewählt.