So verschieben sich Wert und Wertschöpfung im digitalen Zeitalter

Wer überleben will, muss selbst zu seinem größten Wettbewerber werden


5. Mai 2019|By Nils Langhans

Neue Geschäftsmodelle und eine veränderte Wettbewerbsarchitektur stellen alte Gewissheiten über Wert und Wertschöpfung grundlegend in Frage. Das Problem: Vielen Unternehmen in Deutschland fehlt es gegenwärtig noch an Leidensdruck für die dringend notwendigen, drastischen Veränderungen. Doch klar ist: Wer in Zukunft überhaupt noch eine Rolle spielen will, der muss Schluss machen mit der Transformation in Tippelschritten und selbst zu seinem stärksten Wettbewerber werden.

Wenn Uber in einigen Tagen an die Börse geht, dann ist dies nicht nur der größte Börsengang der letzten Jahre, sondern allen voran ein Symbol für die radikale Marktmachtverschiebung im digitalen Zeitalter. Mit rund 90 Milliarden US-Dollar wird Uber ähnlich bewertet sein wie Volkswagen, nach Verkaufszahlen der größte Automobilhersteller der Welt. Der Wachwechsel von globalen Industrieunternehmen, die überlegene Produkte fertigen, zu globalen Plattformen, die überlegene Customer Experience liefern, kristallisiert sich in diesem Börsengang und den ähnlichen Unternehmensbewertungen auf beinahe kitschig-symbolische Weise heraus. Der größere Kontext: Wir erleben seit rund einer Dekade nicht weniger als eine grundsätzliche Redefinition von Wert und Wertschöpfung, die alte Marktmacht durch immer neue, innovative Geschäftsmodelle herausfordert, ja zu Nichte macht.

Die alles entscheidende Frage: What business are you really in?

Für Unternehmen stellt sich damit die provokante Frage, die Harvard-Professor Theodore Levitt bereits 1960 aufgeworfen hat, mit neuer Dringlichkeit: »What business are you really in?« Definierte sich die Antwort in vordigitalen Zeiten über die Produkte, die ein Unternehmen herstellte, so lässt sie sich heutzutage nur entlang von Kundenbedürfnissen, die ein Unternehmen befriedigt, finden: Aus Automobilherstellern werden so Mobilitätsdienstleister. Klar ist: Im digitalen Zeitalter wird rigorose Kundenzentrierung zur erfolgskritischen Größe. Doch für angestaubte Unternehmen ist es häufig eine enorme Herausforderung, schnell und adaptiv auf neue oder veränderte Kundenbedürfnisse, meist getrieben durch technologische Innovationen, zu reagieren. Ein Grund dafür: Zu vielen Unternehmen in Deutschland geht es heute schlicht viel zu gut. Multimillionengewinne sprudeln in den industriellen Herzkammern des Landes, man sonnt sich in vermeintlich felsenfester Weltmarktführerschaft von Made in Germany. Warum da etwas ändern? Ein fataler Irrglaube. Ein toxisches Gemisch aus Selbstgewissheit, Ignoranz und diffuser Angst gepaart mit fehlendem Leidensdruck in vielen Branchen und Industrien, diese manchmal selbstherrliche Saturiertheit, all dies wird zu einer der größten Herausforderungen für den Standort Deutschland. Im digitalen Zeitalter gilt: Lässt ein etabliertes Unternehmen die Tür nur einen Spalt breit offen, treten hungrige Startups und in die Breite diversifizierende Big-Tech-Unternehmen sie mit Gewalt ein. Was einst ein Wettbewerbsvorsprung auf Jahrzehnte war, ist im Morgen kaum mehr wert als eine Fußnote in der Wirtschaftsgeschichte. Extrem verringerte Markteintrittskosten, immer mehr Risikokapital für hungrige Herausforderer und immer neue, digitale Geschäftsmodelle bestrafen Trägheit und Ineffizienz gnadenlos. Hätte man vor ein paar Jahren Kieferorthopäden danach gefragt, ob sie ihr Geschäft von der Digitalisierung bedroht sähen, hätten sie wohl kaum mehr als mit äußerst geraden Zähnen müde gelächelt. Heute revolutionieren gut finanzierte Startups wie SunshineSmile den Markt für Zahnkorrekturschienen mit App und Zahnabdruckset per Post. Solcherlei Beispiele gibt es unzählige. Immer im Fokus: Das beste Kundenerlebnis. Wenn der Drogeriegigant Rossmann dieser Tage selbstgewiss verkündet, dass das Onlinegeschäft für das Unternehmen unbedeutend sei, anstatt aus seiner gegenwärtig noch komfortablen Position heraus selbst neue Geschäftsmodelle zu erproben und vielleicht zur führenden digitalen Plattform für Drogerieartikel zu werden, dann kann man kaum viel mehr als den Kopf schütteln.

Die multipolare Wettbewerbsarchitektur

Ein Innovation Hub, ein Lab, ein bisschen Design Thinking und ein paar Sneakers für den CEO – Digitalinitiativen sind in vielen Fällen zu zaghaft, ja zu bruchstückhaft. Vor allem aber: Sie laufen häufig an den Realitäten vorbei, da sie verkennen, wie fundamental ebenjener Wandel der Wettbewerbs- und Wertschöpfungsarchitektur verläuft und wie grundlegend sich Unternehmen entsprechend verändern müssen, um im Morgen noch eine Rolle zu spielen, einen Nutzen zu haben. Ein Beispiel: Früher konkurrierte ein Autobauer wie VW mit BMW, Mercedes oder Opel – handverlesener Wettbewerb, auf Jahrzehnte geschützt durch kilometerhohe Markteintrittsbarrieren aus proprietärem Wissen, immensen Investitionskosten und breitem Endkundenzugang. Durch den digitalen Wandel verschwimmen Industrie- und Produktgrenzen immer weiter, sie werden obsolet und im Ergebnis steht eine von Grund auf gewandelte, multipolare Wettbewerbsarchitektur: VW konkurriert nicht nur mit BMW oder Mercedes, sondern auch mit neuen, innovativen Playern wie Tesla oder Byton um das Fahrzeug der Zukunft. VW konkurriert mit Google oder Apple um die Plattform Auto, um die User Experience jenseits vom Hoch- und Runterschalten. VW konkurriert mit Uber oder Lyft bei der Plattformisierung von Mobilitätsdienstleistungen. VW konkurriert mit Vodafone und Co. um die Ausgestaltung konnektiver, autonomer Mobilität. Für andere Automobilhersteller gilt das gleiche. Und die Antworten, ob sie Moia oder ShareNow heißen, sie kommen reichlich spät und sind selten sonderlich innovativ. Sie lassen die deutsche Automobilindustrie nicht wie Treiber dieses Wandels erscheinen, sondern wie seine Getriebenen.

Digitalisierung bedeutet eine Verschärfung von Wettbewerbs- und Effizienzdruck

Klar ist: Die reaktive Transformation in Tippelschritten wird nicht funktionieren. Man darf all jenen Unternehmen, die die großen Umwälzungen erst noch vor sich haben, nur zurufen, sich nicht im Klein-Klein oder in Symbolpolitik zu verirren, sondern stattdessen mutig und bestimmt die großen, langen Linien zu denken. Mag die Plattformisierung im B2C-Geschäft allmählich abgegrast sein, so beginnt das Rennen um die B2B-Plattformen von Morgen etwa gerade erst. Anders als in analogen Zeiten können wir jeden Mikrometer einer globalen Unternehmung datenbasiert und in Echtzeit auf seinen wertstiftenden Beitrag untersuchen – und verändern. An Möglichkeiten und Perspektiven mangelt es also wahrlich nicht. Der Analyse von Sunil Gupta, Professor an der Harvard Business School, folgend, beruhen erfolgreiche digitale Transformationen darauf, das eigene Geschäftsmodell von Grund auf neu zu denken, die eigene Wertschöpfungskette bzw. die eigene Rolle darin neu zu denken, die Kundeninteraktion gänzlich neu zu denken und die eigene Organisation neu zu denken, ergo eigentlich fast alles neu zu denken. Vergleicht man diesen brettharten Anforderungskatalog mit der schönfärberischen Corporate-Influencer-Narretei, nach der Digitalisierung bloß eine seichte Mischung aus Home Office, Fun und Cupcake-Wettessen im Co-Working-Space ist, ist es höchste Zeit, endlich mit einem Missverständnis aufräumen: Digitalisierung bedeutet allen voran eine Verschärfung von Wettbewerbs- und Effizienzdruck, nicht ihr Gegenteil, auch wenn das manch einer Glauben macht. Die gute Nachricht daran: Es wird für alle ähnlich herausfordernd.

Mein größter Wettbewerber muss ich selbst sein

Was also tun? Die Antwort auf eine radikal veränderte, komplexe Wettbewerbsarchitektur kann nur ein radikales Umdenken für jeden Konzern, für jeden Mittelständler, ja für jeden einzelnen Unternehmer bedeuten: Die Zeiten, in denen man sich auf hart erarbeiteten Wettbewerbsvorteilen ausruhen konnte, in denen Tradition schützte, sind unwiederbringlich vorbei. Gisbert Rühl, CEO des Stahlkonzerns Klöckner, stellte vor einigen Jahren die These »Ich kannibalisiere mein Geschäft, bevor es andere tun« in den Raum und begründete damit Klöckners Ambition, selbst zur B2B-Plattform zu werden, bevor sich Player wie Amazon zwischen das Unternehmen und seine Kunden schalten. Diese These behält ihre Gültigkeit, doch muss man sie heute noch verschärfter formulieren. Für jedes Unternehmen, das im Morgen erfolgreich sein will, gilt: »Mein größter Wettbewerber muss ich selbst sein.« Wir brauchen nicht weniger als radikal unternehmerisch denkende und handelnde Organisationen, die entlang von Kundenbedürfnissen konstant neue, bessere Geschäftsmodelle entwickeln, die nicht mehr nur das beste Produkt bauen, sondern den meisten Nutzen für ihre Kunden stiften wollen. Denen, die zu solch einem grundlegenden, fortwährenden Wandel bereit sind, gehört die Zukunft. Allen anderen kann man nur sagen: Viel Glück.


Nils Langhans ist Gründer und Geschäftsführer von KAUFMANN / LANGHANS. Er arbeitete zuletzt als selbstständiger Kommunikationsberater für Startups aus den Bereichen AI, Blockchain und FinTech. Zuvor war er unter anderem für die strategischen Kommunikationsberatungen Hering Schuppener und CNC sowie für den ehemaligen Obama-Berater Julius van de Laar tätig. Nils ist Alumnus der Studienstiftung, Mitglied bei Mensa e.V. und wurde 2018 vom PR Report in das 30-unter-30-Ranking gewählt.