Warum Menschen digitale Kopien ihres T-Shirts kaufen und wie dieser Trend ganze Industrien disruptieren wird

Virtuelle Eitelkeit


15. Mai 2019|By Dominik Kaufmann

Beim Modeunternehmen Carlings können Kunden schon heute rein virtuelle Kleidung kaufen, via App anziehen und sich auf Instagram mit den digitalen Shirts und Mänteln schmücken. Spielerische Spinnerei? Nein, sondern vielmehr Vorbote einer Verlagerung weiter Teile unseres Lebens in eine zweite, virtuelle Realität: Ein Trend, der nicht nur die Grundsätze unseres Zusammenlebens, sondern auch tradierte Muster von Wert und Wertschöpfung in Frage stellt.

Shudu ist derzeit eines der gefragtesten Models der Welt. Große Marken kooperieren mit ihr, das Luxusmodelabel Balmain hat Shudu zum Gesicht seiner Kampagne gemacht. Shudu wird in Hochglanzmagazinen und auf Billboards abgedruckt. Shudu folgen rund 170.000 Menschen auf Instagram, jedes Bild erhält tausende Likes. Ein Model also wie so viele andere? Nicht ganz, denn Shudu ist kein Mensch. Shudu ist eine virtuelle Puppe, sie besteht aus 0 und 1 anstatt aus Fleisch und Blut. Hinter Shudu steckt der britische Fotograf und Künstler Cameron-James Wilson. Mit Shudu zeigt Wilson jedoch weit mehr als einen Trend in der Fashion-Industrie. Das virtuelle Model ist ein Ausdruck eines Veränderungsschubs, der sich gegenwärtig noch spielerisch annähert, doch schon bald radikalen Einfluss auf unser Zusammenleben und damit auch auf die Wertschöpfung von Unternehmen haben wird. Wir erleben, wie sich die Frage »Was ist Realität?« im Angesicht der Möglichkeiten von Virtual und Augmented Reality radikal neu stellt. Die reichlich klobigen VR-Brillen von Oculus und anderen Wettbewerbern sind nicht mehr als ein milder Anfang, das 56k-Modem der virtuellen Realität. In einer zunehmend datafizierten Welt werden wir durch die Kombination von VR, AR und allgegenwärtigen IoT-Sensoren eine grundsätzliche Redefinition dessen erleben, was Realität ist, was erfahrbarer, gestaltbarer Raum ist. Virtuelle Realität, das wird in Zukunft nicht bloß mehr ein Rückzugsort für hornbebrillte Nerds sein, sondern eine Rahmenbedingung unseres Zusammenlebens, ein neuer Teil unserer gesellschaftlichen Realität.

Menschliche Eitelkeit besteht auch im virtuellen Raum fort

Klar ist: Wir werden künftig mehr und mehr Zeit in (teil-)virtuellen Räumen verbringen. Wir werden Geschäftsmeetings in virtuellen Büros abhalten. Wir werden Freunde in virtuellen Wohnzimmern treffen. Wenn sich perspektivisch ein Teil unseres Lebens in virtuellen Räumen und Realitäten abspielt, dann werden diese Räume zwangsläufig auch zu Räumen, in denen sich menschliche Bedürfnisse entfalten und ökonomisieren – insbesondere das Bedürfnis nach Selbstdarstellung und Distinktion: Genau wie sich in der realen Welt Individualität, Status und Zugehörigkeit häufig über Kleidung, Mobiliar und andere Symbole ausdrücken, wird das Bedürfnis nach Distinktion auch im virtuellen Raum nicht abnehmen und seinen Ausdruck suchen. Das Problem: Weder ein Büro in Bestlage, noch eine teure Uhr oder ein Designerkostüm lassen sich so einfach mit in die virtuelle Welt nehmen. Eine Lösung für dieses Problem: Eine exakte digitale Kopie eines Büros mit Blick über Manhattan, einer Omega-Uhr oder eines Prada-Anzugs, ein via Blockchain verbrieftes digitales Gegenstück zu einem real existierenden Gegenstand, Eigentum übertragen in den virtuellen Raum. Klingt verrückt? Das norwegische Bekleidungsunternehmen Carlings hat im vergangenen Herbst seine erste digitale Kollektion auf den Markt gebracht. Kunden können dort anstatt eines realen Mantels für 300 Euro sein digitales Gegenstück für 30 Euro erwerben, ihn via App anziehen und sich auf Kanälen wie Instagram mit dem Kleidungsstück schmücken, ohne es je real am Körper gehabt zu haben. Die von Fabian Vogelsteller, einem der einflussreichsten Köpfe der Blockchain-Industrie, gegründete Blockchain-Plattform Lukso entwickelt gegenwärtig eine Infrastruktur für den fälschungssicheren Vertrieb und die Nutzung digitaler Kleidungsstücke im virtuellen Raum.

Stand heute mag das alles noch nach Spielerei klingen, mögen die genannten Beispiele vielleicht gar Futter für ein bisschen schlecht gelaunten Kulturpessimismus liefern. Doch so begrenzt der Nutzen im Heute noch sein mag, so sind die Beispiele Shudu, Carlings und Lukso doch eine Art Guckloch in eine Zukunft, in der das, was wir heute als anfassbare Realität kennen, mit anderen Zuständen, ja anderen virtuellen Realitäten verschmilzt – mit erheblichen Konsequenzen für vermeintliche Gewissheiten über Wert und Wertschöpfung.

Spielerischer Beginn mit dem Potential zu massiver Disruption

Die Vorstellung, dass Massenmärkte für rein digitale Gegenstücke zu physischen Gütern entstehen, mag auf den ersten Blick aberwitzig erscheinen, doch gibt es eine Fülle von Indizien, die in genau diese Richtung deuten. Wie in manch anderen Bereichen ist es auch hier die Gaming-Industrie, die zeigt, wo die Reise hingehen kann: In Online-Rollenspielen wie World of Warcraft oder Fortnite geben Nutzer seit Jahren reales Geld dafür aus, um ihren Avataren digitale Fertigkeiten oder Statussymbole angedeihen zu lassen. Gleichzeitig sehen wir erste basale VR- und AR-Anwendungen, die ihren Weg in den Massenmarkt machen: Brillen kann man heute per Smartphone-App virtuell anprobieren, die Inneneinrichtung des neuen Badezimmers kann man per Oculus-Rift nicht nur im Katalog, sondern gleich im virtuellen Raum ansehen und auswählen. Solche Beispiele sind lediglich ein Anfang auf dem Weg dahin, mittels virtueller Realitäten Raum- und Zeit-Differenzen so effizient wie möglich zu überwinden. Der Grund dafür ist simpel: Reise-, Transport- und Logistikkosten sind in nahezu jeder Industrie ein erheblicher Kostenfaktor – und virtuelle Räume sind auf Sicht der günstigste Weg, dieses zentrale ökonomische Problem zu beseitigen. Ein Modeversandhändler, der dank virtueller Anprobe seine Rücksendequoten auf ein Minimum verringert, wird einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber seiner Konkurrenz haben. Für ein multinationales Unternehmen, das Reise- und Logistikkosten durch Meetings in vollvirtuellen Räumen einspart, gilt ähnliches. Und diese Beispiele zeigen lediglich die Kostenvorteile – die Wachstumschancen durch neue Produkte und Geschäftsmodelle im virtuellen Raum sind für viele Unternehmen noch deutlich interessanter.

Wie Unternehmen von den Möglichkeiten virtueller Räume profitieren können

Wenn wir in Zukunft einen zunehmend großen Teil unserer Zeit in virtuellen Räumen verbringen werden, dann findet auch ein zunehmend großer Teil von Wertschöpfung in virtuellen Räumen statt. Für Unternehmen gilt es, sich Kompetenzen und Expertise rund um die Themen VR und AR anzueignen, um schleunigst ein Verständnis von Use Cases und neuen Geschäftsmodellen zu entwickeln und Kooperationspartner oder neue Wettbewerber zu identifizieren. Genauso wichtig ist es, die Möglichkeiten virtueller Realitäten für die eigene Produktentwicklung auszuloten und die Verbindung zu traditionellen Produkten herzustellen.  Einer aktuellen Studie des Bundesverbands Digitale Wirtschaft zufolge sehen 54 Prozent der befragten Unternehmen VR und AR entsprechend auch als relevanten Bestandteil der Unternehmensstrategie an. Auch jenseits der eigenen Produktpalette wird der virtuelle Raum für viele Unternehmen auf Sicht zu einem zusätzlichen Touchpoint werden, den es im Zuge der Customer Journey konsequent mitzudenken und zu bearbeiten gilt. Wir stehen hier erst ganz am Anfang einer Entwicklung, die nicht nur erhebliche unternehmerische Potentiale eröffnet, sondern auch grundlegende ethische, rechtliche und gesellschaftliche Fragestellungen mit sich bringt – jeder Unternehmer hat die Aufgabe, diese Entwicklung von Beginn an aktiv zu gestalten anstatt perspektivisch von ihr getrieben zu werden.


Dominik Kaufmann ist Gründer und Geschäftsführer von KAUFMANN / LANGHANS. Er arbeitete zuletzt als Projektleiter für die Strategie- und Organisationsberatung undconsorten und beriet dort DAX- und TecDAX-Unternehmen bei den Themen Transformation, Agilisierung und Vertrieb. Zuvor war er als Market Manager für die Daimler AG tätig. Dominik ist Alumnus der Studienstiftung und Mitglied bei Mensa e.V..