FUTURE PERSPECTIVES

»Psychische Krankheiten werden noch immer stigmatisiert«


5. Mai 2021|By Dominik Kaufmann

In unserer Interviewreihe FUTURE PERSPECTIVES stellen wir Unternehmer:innen und anderen spannenden Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten Bereichen und Branchen 11 Fragen zur Zukunft.

In dieser Ausgabe sprechen wir mit Philip Ihde, Co-Founder und Chief Operating Officer bei HelloBetter. Das Digital Health Startup bietet psychologische Online-Trainings zur Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen wie etwa Depression, aber auch bei Stress, Schlafstörungen, Angst und Panik oder chronischen Schmerzen an.

(1) Eine Sache, die in Zukunft unbedingt erfunden werden muss?

Ich blicke natürlich auf die Gesundheitsbranche und hier ist für mich der Traum die vollumfänglich individualisierte Medizin. Das geht dann von der frühzeitigen Diagnose, z.B. durch die Analyse von Biomarkern, über passgenaue Präventionsmaßnahmen bis hin zur individualisierten Behandlung. In meinem beruflichen Kontext wäre das die digitalisierte und individuelle Psychotherapie, die mich als Person da abholt, wo ich stehe, und mir die Inhalte und Formate zur Verfügung stellt, die ich brauche, damit ich mich besser fühle. Damit würden wir auch einem wesentliches Problem bei der Behandlung von psychischen Störungen begegnen: dem krassen Zeitverzug zwischen den ersten Symptomen und einer wie auch immer gearteten Form der Behandlung. Wir sprechen da von durchschnittlich sechs bis acht Jahren.

(2) Eine Person, von der du viel über Zukunft gelernt hast?

Schwierige Frage, ich versuche sie mal auf zwei Ebenen zu beantworten: Im Großen finde ich Yuval Noah Harari mit seinem Buch »Homo Deus« sehr faszinierend, weil er mir auf der Metaebene ganz neue Perspektiven eröffnet hat. In Kleinen, also der Gesundheitsbranche, finde ich meinen Mitgründer David Ebert inspirierend, weil er seit 10 Jahren extrem innovative Denkansätze verfolgt und der Frage nachgeht, wie man Patient:innen durch Kombination digitaler und physischer Formate helfen kann.

(3) Ein gesellschaftlicher Missstand, der sich in Zukunft unbedingt verändern muss?

Wir stellen fest, dass weiterhin eine krasse Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen existiert – sowohl bei Arbeitgebern als auch im privaten Umfeld. Die ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen und seines Gesundheitszustandes findet nicht statt: Wenn sich jemand sein/ihr Bein gebrochen hat, ist das ganz normal und kein Problem. Wenn es aber um den Umgang mit Stress oder depressiven Stimmungen geht, findet das auf einer ganz anderen Ebene statt. Uns allen wäre geholfen, wenn wir hier zu einer offeneren und entstigmatisierten Diskussion kommen, die klar die Krankheit benennt und dementsprechend behandelnde und präventive Maßnahmen einschließt.

(4) Was wird es in Zukunft nicht mehr geben?

Meine Hoffnung ist, dass in Zukunft die Informationslücken zwischen behandelnden Parteien geschlossen werden. Aktuell gibt es kaum einen datenschutzkonformen Weg, wie z. B. Arzt und Psychotherapeut Patienteninformationen austauschen können. Das behindert natürlich die ganzheitliche Betreuung und auch das individuelle Verständnis für die Patient:innen.

(5) Was wird in Zukunft ganz groß werden?

Wir stehen in Deutschland zwar noch komplett am Anfang, aber in Zukunft wird die digitale User Experience für Patient:innen extrem an Bedeutung gewinnen. Im Moment sind wir mit einzelnen digitalisierten Touchpoints noch sehr punktuell aufgestellt. In Zukunft wird aber hoffentlich der Begriff Digital Health komplett verschwinden, weil es dann nur noch Health gibt – und zwar digital und patientenzentriert. Wir bei HelloBetter profitieren extrem davon, dass Kolleg:innen aus anderen Branchen und Tech-Domains, die hier schon deutlich weiter sind, zu uns kommen und ihre Erfahrungen mit dem Wissen unserer Forscher:innen und Mediziner:innen zusammenbringen. 

(6) Wie werden wir in Zukunft arbeiten?

Ich erwarte sowohl eine weitere Flexibilisierung der Arbeitswelt als auch eine weitere Fokussierung auf bestimmte Bereiche. Heißt konkret: Das projektbasierte Zusammenkommen und Arbeiten von Expert:innen, auch über Unternehmensgrenzen hinweg, wird stärker, weil das Denken in Positionen und Job-Titeln immer mehr vom Denken in Ergebnissen abgelöst wird. Gleichzeitig – und das ist der gegenläufige Trend – beobachte ich durchaus eine Rückbesinnung und ein Streben nach Sicherheit. Hier bin ich mir noch nicht sicher, was sich schlussendlich durchsetzen wird. Was hingegen klar ist: Es wird eine hybride Form der Arbeit geben aus Präsenz- und Remote-Kultur – allein schon deshalb, weil wir Menschen soziale Wesen sind und das Bedürfnis nach persönlicher, physischer Nähe und sozialer Interaktion haben.Ich habe selbst in den letzten Monaten gemerkt, wie wichtig so ein hybrides Setup ist.

(7) Wo bist du in deinem Job mit Zukunft konfrontiert?

Auf ganz vielen Ebenen und entsprechend herausfordernd ist die Frage: »Auf welchen Trend setzen wir denn?« Aus der Vielzahl von Optionen müssen wir einen roten Faden spinnen und festlegen, was die strategischen Prioritäten für die kommenden Monate sind. Das berührt dann alle Bereiche von der Art der Zusammenarbeit bis hin zu Investor Relations. 

(8) Welche individuellen Fähigkeiten werden in Zukunft entscheidend sein?

Die Fähigkeit schnell mit Veränderungen umzugehen. Wir haben letztes Jahr innerhalb einer Woche unsere Zusammenarbeit komplett umgestellt und machen das seitdem. Und die Zukunft wird weiterhin von schnell eintreffenden Veränderungen geprägt sein, die wir eben nicht vorhersehen können. Damit muss ich umgehen können.

(9) Was wird in Zukunft die wertvollste Ressource für Unternehmen sein?

Schnelle Veränderung bedeutet ja nicht, dass man nicht planen sollte und schlecht oder gar nicht kommuniziert. Als Management müssen wir jeden Veränderungsprozess kommunikativ intensiv begleiten. Du musst einen Rahmen haben und Kontext geben, in dem sich jeder zurecht finden kann. Der Kontext kann sich dann auch wieder verändern, aber es muss jedem klar sein, was der Status quo ist. Das heißt nicht, dass die Geschäftsführung alles weiß und wissen muss, aber sie hat die Verantwortung für diese Übersetzungsleistung.

(10) Was bedeutet Zukunft für dich ganz persönlich?

Ich finde die unterschiedlichen Herangehensweisen und Auseinandersetzungen mit Zukunft extrem spannend. Ich bin begeistert, wie unser Team auf die fundamentalen Veränderungen reagiert hat und damit umgeht. Gleichzeitig geraten Organisationen und auch Einzelpersonen zunehmend  ins Straucheln, wenn es um ihre Zukunftsfähigkeit geht. Für mich heißt Zukunft deshalb, offen zu sein und Lösungen zu suchen, wenn es eben mal nicht rund läuft.

(11) Was würdest du deinem 20-jährigen Ich raten?

Sich selbst Zeit zuzugestehen, Dinge zu lernen und nicht die Erwartung an sich selbst zu haben, alles von Anfang an perfekt zu beherrschen. Derjenige, der eine neue Aufgabe, ein neues Projekt angefangen hat, ist zum Glück immer ein anderer als derjenige am Ende einer Reise.