Über Wachstumsschmerzen und die Zukunft von Hyper Growth

Die größte Gefahr für den eigenen Erfolg: der eigene Erfolg


1. Juli 2019|By Dominik Kaufmann

»Move fast and break things« – Mark Zuckerbergs Kalenderspruch ist zum Mantra einer ganzen Generation von Gründern und Disruptoren geworden. Kaum ein Satz verdichtet die T-Shirt-tragende Fuck-you-Attitüde, mit der Facebook und Co. die Corporate-Welt in eine mittelschwere Existenz- und Sinnkrise geführt haben, so sehr wie dieser. Seither gilt Hyper Growth – als Terminus erstmalig 2008 vom Harvard Business Review aufgeworfen und als steilster Teil der Wachstums-S-Kurve definiert – als Königsdisziplin der Startup-Welt, »where the winners get sorted from the losers«.

Nur den wenigsten Unternehmen gelingt es überhaupt, die vom Weltwirtschaftsforum definierten Kriterien für Hyper Growth – eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von mehr als 40 Prozent – zu erreichen. Und wer zum erlesenen Kreis der am schnellsten wachsenden Startups der Welt zählt, dem steht der Drahtseilakt bevor, an der schieren Wachstumsgeschwindigkeit nicht zu zerbrechen. Hyper Growth, das bedeutet nicht nur Markteroberung im Geschwindigkeitsrausch, sondern auch jede Woche Dutzende neue Mitarbeiter, ständig neue Standorte, neue Tools, Methoden und Prozesse, dazu neue Produkte und Services am laufenden Band. So werden in Hyper-Growth-Unternehmen aus 10 Mitarbeitern binnen kürzester Zeit 1.000 – es liegt auf der Hand, dass eine solch rapide Expansion jede Organisation an die Grenzen ihrer Leistungs- und Belastungsfähigkeit führt. Die größte Gefahr für den Erfolg rasant wachsender Unternehmen liegt häufig darin, im Wachstum genau das zu zerstören, was das Wachstum doch erst möglich gemacht hat – Hyper Growth gefährdet Hyper Growth.

Der Gründer wird zum Bottleneck und bremst das Wachstum

Eine der zentralsten Herausforderung ist die veränderte Rolle des Gründers: Geht zu Anfang praktisch alles durch die Hände eines allgegenwärtigen Geschäftsführers, so wird er bei wachsender Organisationsgröße schnell zum Bottleneck seiner eigenen Firma. Ein CEO eines Hyper-Growth-Unternehmens muss sich davon verabschieden, in jedes Detail involviert zu sein – eine Anforderung, die für viele Gründer nicht leicht zu erfüllen ist. Es gilt, Verantwortung dezentral zu organisieren und auf mehrere Schultern zu delegieren, um der wachsenden Menge tagtäglich zu treffender Entscheidungen Herr zu werden. Dezentrale Entscheidungsprozesse erhöhen dabei nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die Motivation bei Mitarbeitern und häufig die Entscheidungsqualität, da Dinge dort entschieden werden, wo Expertise und Informationen verortet sind. Klar ist: mit wachsender Unternehmensgröße besteht der Wertbeitrag des CEO nicht mehr darin, im Unternehmen, sondern am Unternehmen zu arbeiten. Doch klar ist, dass nicht jeder gute Gründer auch ein guter CEO ist – oder sein möchte. Um dem Wachstum des eigenen Startups nicht im Weg zu stehen, sollten sich Gründer daher frühzeitig überlegen, wie sie den radikalen Wandel ihrer eigenen Rolle bewerkstelligen können.

Gute interne Kommunikation skaliert Kultur

Hyper Growth funktioniert nicht ohne Hyper Work. Nicht nur für das Top-Management, sondern für jeden einzelnen Mitarbeiter bedeutet dies häufig Dauerdruck und konstante Überforderung über Monate, wenn nicht Jahre. Verschnaufpausen? Nicht in Sicht. Interessanterweise entlädt sich diese Anspannung je nach Unternehmenskultur in zwei völlig gegenläufige Richtungen: Manche Teams werden vom zunehmenden Druck förmlich zusammengeschweißt, sie stehen füreinander ein und entwickeln eine Form systemischer Emergenz, an der Niklas Luhmann seinen Spaß hätte. Andere wiederum verlieren sich unter Druck in Richtungsstreits, zerfallen in unterschiedliche Lager, es entsteht eine Antikultur wie schleichendes Gift und es dauert nicht lange, bis der Motivationsabfall einen Leistungsabfall zur Folge hat, der die Wachstumskurve bricht. Wie gut oder schlecht ein wachsendes Team unter wachsendem Druck agiert, hängt neben seiner Zusammensetzung vor allem von der Skalierbarkeit von Kultur, also von der Übersetzung abstrakter Werte in beobachtbare und entsprechend schnell erlernbare Verhaltensmuster, ab. Generell gilt: Die Bedeutung interner Kommunikation in Wachstumsphasen mit hohem Druck und ständig neuen Mitarbeitern kann nicht hoch genug eingeschätzt werden – und wird in der Praxis doch gern vernachlässigt. Als CEO gilt es, insbesondere in Zeiten rapiden Wachstums allen Mitarbeitern die Spielfläche so zu arrangieren, dass sie bestmöglich ihre Leistung abrufen können. Grundlage dafür ist, dass es im Gründer- bzw. Führungsteam absolute und uneingeschränkte Klarheit über den Weg nach vorne gibt, denn nichts treibt schneller einen Keil in ein Team als uneinige Führung.

Ablenkung lauert an allen Ecken und Enden

Wer mit Tempo 190 über die Autobahn brettert, der sollte sich mit voller Konzentration auf die Straße fokussieren und nicht nebenbei YouTube-Videos schauen, WhatsApp-Nachrichten tippen und sich in Gedanken an den nahenden Sommerurlaub verlieren. Mit einer Hyper-Growth-Phase verhält es sich nicht sonderlich viel anders: Rasantes Wachstum braucht vollen Fokus, jede Ablenkung kann zum Totalschaden führen. Für Unternehmer bedeutet dies, sich nicht in visionärem Sinnieren über den überübernächsten Schritt zu verirren, sondern alle Ressourcen auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Zumal im Schatten des Erfolgs bereits allerhand Schulterklopfer und Verkäufer lauern, die Tools, Methoden und einen Reigen anderer absolut unverzichtbarer Dinge an Mann und Frau bringen wollen. Schnell gerät aus dem Blick, dass alle Tools und Methoden letztlich nur ein Mittel zu einem Zweck, zur Lösung eines bestehenden Problems sind, nicht jedoch Zweck in sich selbst. Für Hyper-Growth-Unternehmen liegt dieser Zweck meist in der Standardisierung und internen Skalierbarkeit durch Playbooks und Prozesse. Es gilt: im Zweifel lieber ein Tool weniger und wenige Methoden richtig und konsequent einsetzen, als viel Halbgares, das letztlich nur Verwirrung stiftet und Fokus raubt.

»Move fast and break things« ist spätpubertäres Denken

Wachstum mit höchster Geschwindigkeit hinterlässt gelegentlich verbrannte Erde – die Konsequenzen sind bis zu einem gewissen Grad im Konzept Hyper Growth eingepreist. Das Kalkül: etwaige Reputationsschäden, Rechtsstreitigkeiten oder irritierte Einzelkunden werden durch die Wachstumsgeschwindigkeit ökonomisch überkompensiert und fallen somit auf Sicht nicht weiter ins Gewicht. In der Theorie mag das logisch klingen, doch in der praktischen Anwendbarkeit ist »Move fast and break things« nur ein bedingt zu empfehlender Modus Operandi. Der Fall von Uber etwa, das mit beispielloser Ignoranz und Arroganz in den deutschen Markt eingetreten ist und sich bei praktisch allen Entscheidern so unbeliebt gemacht hat, dass das Unternehmen noch im Jahr 2019 Probleme hat, sein eigentliches Geschäftsmodell in Deutschland zu praktizieren, zeigt, wie sehr solche spätpubertäre Rücksichtslosigkeit zu langfristigen Reputations- und mithin Geschäftsproblemen führen kann.

Auch das Beispiel von N26 zeigt – wenn auch in harmloserem Maße –, wie schnell sich die enorme Wachstumsgeschwindigkeit ins Negative verkehren kann, wenn etwa die eigene Organisation nicht ausreichend für Ernstfälle gerüstet ist: So erntete die Smartphone-Bank einen substantiellen Shitstorm, nachdem sie nach Konto-Hacks tagelang nicht für ihre Nutzer erreichbar war. In der Konsequenz schaltete sich auch noch die BaFin ein und bescherte dem FinTech-Unternehmen so massiv negative Presse.

Es gehört zur Natur des Herausforderers, Regeln zu brechen und Regulierung in einem erträglichen Maße zu dehnen, doch darf man auch in der Hyper-Growth-Phase nicht vergessen, dass es eine Zeit nach dem Hyper Growth gibt. Eine Zeit, in der sich Marktanteile verstetigen, in der sich Wachstum verlangsamt und in der die Nachhaltigkeit und Verteidigbarkeit des eigenen Geschäftsmodells zur erfolgskritischen Größe wird. Um in diesen Phasen zu bestehen, sollte sich ein Unternehmen vorab nicht zu viele Feinde gemacht haben, sondern idealerweise im klugen Dialog Allianzen mit Stakeholdern schmieden, die den Geschäftserfolg auf Dauer absichern anstatt ihn zu gefährden.

Die Zukunft von Hyper Growth

Aus Marktperspektive bedeutet Hyper Growth stets einen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb, an dessen Ende schon der zweite der erste Verlierer ist. Der Grund: plattformisierte Märkte tendieren meist zu quasimonopoler Struktur mit einem marktbeherrschenden Akteur. Entsprechend sind Gewinne in der Hyper-Growth-Phase nachrangig wichtig – ausgecasht wird, nachdem alle anderen Wettbewerber aus dem Markt gedrängt wurden. Was zählt, ist ein möglichst hoher Marktanteil in kurzer Zeit. Die erste Dekade Hyper Growth, die wir seit dem Siegeszug von Facebook und Co. erlebt haben, zeigt dennoch, dass Geschwindigkeit um jeden Preis der falsche Weg ist, um in solchen High-Speed-Rennen zu bestehen. Ohne effizientes Leadership mit schlanken und dezentralen Entscheidungsmechanismen, ohne eine ausgeprägte Ownership-Kultur, ohne radikale Fokussierung, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter sowie die regulatorischen Rahmenbedingungen und die Reputation des Unternehmens ist Hyper Growth kaum zu stemmen. Eine Entwicklung, die sich in Zukunft verstärken wird, da die nächsten Rennen nicht in vergleichsweise unterkritischen Bereichen wie der Essensauslieferung, sondern in – aus gutem Grund – immer stärker regulierten Arenen ausgetragen werden. Wenn die IT-Infrastruktur eines Essenslieferdienstes in einer Stadt ausfällt, weil sie mit allzu heißer Nadel gestrickt wurde, ist das unschön, aber nicht dramatisch. Wenn das gleiche Problem die IT-Infrastruktur einer Bank lahmlegt, ist der mögliche Schaden weitaus größer. Sorgt ein Fehler in der Software eines Algorithmus, der auf die Analyse von Computertomographie-Bildern trainiert ist, dafür, dass Krebserkrankungen nicht oder falsch diagnostiziert werden, braucht es nicht sonderlich viel Phantasie, um sich die dramatischen Konsequenzen auszumalen. Je mehr wir uns also Arenen und Dingen nähern, die absolut keinen Fehler verzeihen, desto mehr wird klar, dass »Move fast and break things« ein schönes Poster im Jugendzimmer der digitalen Transformation ist, doch für die Zukunft bei allem Streben nach Hyper Growth gilt, schnelles Wachstum mit dem Primat verantwortungsvollen Unternehmertums in Einklang zu bringen.


Dominik Kaufmann ist Gründer und Geschäftsführer von KAUFMANN / LANGHANS. Er arbeitete zuletzt als Projektleiter für die Strategie- und Organisationsberatung undconsorten und beriet dort DAX- und TecDAX-Unternehmen bei den Themen Transformation, Agilisierung und Vertrieb. Zuvor war er als Market Manager für die Daimler AG tätig. Dominik ist Alumnus der Studienstiftung und Mitglied bei Mensa e.V..